Der Wolfsretter

25. März 2022


   In der winterlichen Kälte stand ein betagter Mann vor seiner selbstgebauten Berghütte. Unter dem dicken Pelzmantel zitterte sein Körper. Nicht der Kälte wegen. Aus Angst. Der Angst vor den Wölfen. Nicht weit entfernt in den Bergen ertönte ein lautes Geheul. Wie ein Aufruf zum Kampf. Er musste dort vorbei, in die Stadt. Unsicher und misstrauisch machte er den ersten Schritt in Richtung des Waldes. Die Fichten bedeckte ein weißer Wintermantel. Bei jedem Schritt knirschte der Schnee unter seinen Schuhen. Er drehte sich immer wieder um, aus Furcht ein wildes Tier oder eben ein Wolf könnte ihm folgen.
   Den halben Weg hatte er schon geschafft, als er plötzlich ein leises Piepsen hörte. Der späte Sonnenaufgang überflutete den dunklen Waldweg mit warmen Lichtstrahlen. Er schaute sich um und versuchte die Richtung zu orten, aus der die Geräusche kamen. Nach ein paar Schritten abseits des Weges entdeckte er einen zitternden Wolfswelpen. ›Mist‹, dachte er. ›Wo der Welpe, kann die Mutter nicht weit sein.‹ Geräuschlos bewegte er sich wieder zu dem Waldweg. Der Welpe heulte leise und schwach auf. Der Mann machte sich Sorgen. ›Er wird erfrieren! Verdammt, was soll ich tun?‹
   Er wartete eine halbe Stunde. Von der Mutter des Kleinen gab es kein Lebenszeichen, also beschloss er ihn mitzunehmen in seine warme Hütte. Es war wohl für den Wolfsrüden, wie er feststellte, die beste Chance zu überleben. Er holte eine Decke, die er zur Not immer dabei hatte, aus seinem Rücksack, wickelte den Welpen ein.
   »Du bist völlig unterkühlt, Kleiner«, sagte er fürsorglich zu ihm.    Er drückte ihn an seine Brust und eilte mit zügigen Schritten zurück zu der Hütte. Der Kleine kuschelte sich an ihn heran und betatschte mit seinem Mäulchen den Brustkorb des Mannes.
   »Na, suchst du nach den Zitzen deiner Mutter? Da muss ich dich enttäuschen. Ich bin nicht deine Mama.«
   Er betrat die Türschwelle der Wohnküche und platzierte den Welpen vor dem warmen Kamin. In das Feuer legte er zwei große Holzscheite nach. Sie fingen an sanft zu knistern.
   »Jetzt brauchen wir ein Fläschchen für dich. Wo soll ich es herholen?« Seiner Frage folgte die Idee. Er nahm eine leere Bierflasche, füllte sie mit Milch, schnitt den Mittelfinger eines Gummihandschuhs ab und zog ihn über den Flaschenhals.
   »Passt doch! Siehst du, Kleiner?«, stolz präsentierte er sein Werk vor den Augen des Welpen.
   Er strich das Maul des Welpen mit dem Handschuhfinger und er reagierte sofort. Mit hektischen Zügen sog er die Milch aus der Flasche. Und es dauerte und dauerte...
   »Oh, Kleiner! Bei dir braucht man eine Ausdauer, so wie du trinkst.«
   Am Abend saß der Mann am Tisch und speiste, als er draußen durch das Fenster leuchtende Augen bemerkte. Ein Wolfsrudel versammelte sich auf dem Hof. Ein klägliches Gewinsel ertönte.
   ›Sind sie wegen des Kleinen hier?‹, überlegte er mit der Nase dicht an der Scheibe klebend. ›Bestimmt! Ich muss ihn freilassen, dann gehen sie wieder.‹
   Er schnappte den Welpen, öffnete die Tür und setzte ihn auf der Treppe ab. Schnell schloss er wieder die Tür und ging an das Fenster. Die Wölfe trauten sich nicht näherzukommen. Es dauerte eine Weile, bis einer sich von dem Rudel entfernte und vorsichtig zu der Treppe fortbewegte. Er packte mit dem Maul den Welpen am Nacken und lief zu seinem Rudel zurück.
   ›Bestimmt seine Mutter‹, dachte der Mann und beobachtete wie der Wolfsrudel im Wald verschwand.
   Vom Erfolg beflügelt, den Welpen gerettet zu haben, füllte er ein Glas mit Whisky. Er hob es hoch mit einem Trinkspruch.
   »Auf dein Wohl und langes Leben, kleiner Wolf!«
   Drei Monate später erwachte die Natur wieder zum Leben. Die ersten Buschwindröschen begrüßten fröhlich blühend den kühlen Frühlingsmorgen. Der Mann nahm seinen vollen Kaffeebecher in die Hand und begab sich nach draußen, die Frische und das Vogelgezwitscher zu genießen. Er öffnete die Tür und erstarrte erschrocken. Auf der Treppe lag ein toter Hase. Er blickte in den Wald. Hinter einem Baum stand ein Wolf mit einem Jungen, der ihn ungewöhnlich sanft anschaute. Dann beugte er seinen Kopf, als würde er dankend nicken, drehte sich um und beide verschwanden im Wald.
   Seit diesem Tag, immer wenn er in die Stadt ging, spürte er die Anwesenheit der Wölfe in seiner Nähe. Er hatte aber keine Angst mehr, denn er wusste, sie folgten ihm, um ihn zu beschützen.

©2021 by Alexander Stepien