Die Spätfolgen
28. Juni 2021

Allem was wir tun im Leben folgt irgendwann eine Abrechnung. Ob sie ein Guthaben oder eine Zahlungsaufforderung enthält, entscheiden nur wir selbst. Aus meiner gesellschaftskritischen Kurzgeschichtensammlung "Tabulos".
Eine riesige, goldene Pforte öffnete sich. Richard trat herein. Der Innenraum, der einer großen Eingangshalle glich, war sehr hell. An den Wänden aus Gold leuchteten Hieroglyphen, als wären sie vom Sonnenlicht betrieben und sie ähnelten den ägyptischen Pyramiden-Schriftzeichen. Große goldene Statuen unbekannter, gottähnlicher Geschöpfe schmückten in regelmäßigen Abständen den Weg wie eine lange Schlossallee. Wie Wächter, in deren Augen das ewige Feuer brannte und jede Bewegung Richards, der den Raum mit Bewunderung betrachtete, verfolgten. Ohne es zu merken, bewegte er sich auf eine weitere Tür zu. Sie öffnete sich ebenfalls als er davor stand. Dahinter sah er eine große Produktionshalle. Ein Fließband stand in der Mitte und viele Gestalten ohne Gesichter liefen und werkelten drum herum. Ja, sie hatten keine Gesichter und sahen alle gleich aus. Ihre Hektik war spürbar. Auf dem Band lagen Gestalten wie sie, nur viel kleiner. Als wären sie ihre Kinder. Richard näherte sich dem Fließband und versuchte eine davon zu berühren. Sie durchströmte seine Hand. Richard spürte nichts Fassbares. Wie ein Hauch vom Wind fühlte es sich an. Die Gestalten am Fließband sprachen miteinander, ohne ein Wort zu wechseln. Eine Art telepathischer Kommunikation, die Richard aber auch mitverfolgen und verstehen konnte. »Die nächste Seele ist bereit!«, verkündete die am Fließbandende stehende Gestalt. »Nur einen Körper brauchen wir noch!« Dann schaute sie Richard an – mit den hohlen Öffnungen, wo gewöhnlich die Augen vorzufinden wären – und sagte mit einem rauen Unterton, mit dem Finger auf ihn zeigend: »Einen Körper, den du getötet hast!« Richard wachte auf. Seine Stirn war mit Schweiß bedeckt. Was für ein Alptraum, dachte er und erhob sich aus dem Bett. Richard war nicht abergläubisch, aber an die Deutung der Träume glaubte er schon. Er betrachtete sie als eine Verbindung zu der vor uns und der Wissenschaft verschlossenen Parallelwelt. Und dieser Traum quälte ihn schon über eine längere Zeit und viele Nächte. Er konnte nur die Bedeutung nicht erkennen. An die Psychologie glaubte er seit langem nicht mehr. Einer der größten Irrtümer der Wissenschaft – pflegte er seine Meinung zu festigen – und so beschloss er auf der Suche nach der Wahrheit die Kirche zu besuchen. Den Ort wo die Seele ihre Ruhe finden sollte. Die Kirche war kühl und düster. Richard kniete in der ersten Sitzbank und betete. Mit dem Blick auf den Altar gerichtet, suchte er das Gespräch mit Gott. Er suchte nach Antworten und einem Heilmittel für seine nächtlichen Qualen. Plötzlich hörte er das Quietschen der Beichtstuhltür. Er drehte sich um und sah den Beichtvater darin verschwinden. Richard stand auf und folgte ihm. Er betrat den Beichtstuhl, kniete nieder und bekreuzigte sich. »Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes – Amen!« Er hielt kurz inne, dann fing er an zu reden. »Ich kann mich an meine letzte Beichte nicht mehr erinnern. So lange ist es her.« Er schämte sich dem Pfarrer dies zu gestehen und fuhr sofort darauf hin fort, um dem Geistlichen keine Chance zu einer Bemerkung zu geben. »Vater, ich habe seit einiger Zeit Alpträume die mich quälen und ich nicht weiß, was sie bedeuten.« »Was sind es für Alpträume, mein Sohn? Worum geht es darin?« »Ich befinde mich – ich glaube es ist der Himmel – an einem Fließband, wo antlitzlose Gestalten, den Engel gleich, Seelen produzieren, die genauso wie sie aussehen nur viel kleiner sind. Dann sagen sie bei einer fertigen Seele, die das Band verlassen soll, dass sie nur noch einen Körper bräuchte und ich hätte ihn getötet.« »Wie oft wiederholt sich der Traum?«, fragte der Priester. »Sehr oft. Fast jede Nacht.« »Hast du früher jemanden getötet? Aus welchem Grund auch immer. Im Krieg, aus Notwehr oder aus dem Hass heraus?« Richard erschauderte und zuckte zusammen bei dieser Frage. »NEIN! Gott bewahre! Das habe ich nicht!« »In deinem Traum geht es eindeutig um Kinder«, stellte der Beichtvater fest. »Die kleinen Gestalten auf dem Fließband sind Seelen Ungeborener. Anscheinend hast du in deiner Vergangenheit verhindert, dass eine dieser Seelen ihren Körper zugeteilt bekommt. Zum Beispiel durch eine Abtreibung?« Richard errötete. Jetzt konnte er sich genau erinnern. An den Frühling 1989, als er 15 war. Seine damalige Freundin wurde von ihm schwanger und ihre Mutter zwang sie zu einer Abtreibung. Er selbst hatte keinen Einfluss auf diese Entscheidung, war aber froh, die Mutter der Freundin ließ es im Geheimen – auch vor seinen Eltern – geschehen. Die Jahre vergingen, diese unangenehme Geschichte verblasste und geriet in Vergessenheit. »Vater, das stimmt.« Richard senkte den Kopf. »Wir waren damals sehr jung und andere haben über das Leben und den Tod entschieden. Ich habe nichts getan, um es zu verhindern. Es ist aber über 30 Jahre her. Sind es jetzt die Schuldgefühle, die mich unbewusst heimsuchen?« »Es ist dein Gewissen, das zu dir spricht und dich zur Rechenschaft und Reue auffordert.« »Was kann ich tun, damit es aufhört? Ich kann doch nicht die Zeit zurückdrehen!« Richard ließ machtlos die bisher zum Beten zusammengefalteten Hände fallen. »Beim Gott gibt es keine Zeit, sondern den richtigen Zeitpunkt. Und der ist jetzt für dich gekommen.« Richard merkte wie der Pfarrer sich unruhig in dem Beichtstuhl bewegte. Dann seufzte er leise auf und fing an weiterzureden. »Wenn ein Kind geboren wird und kurz darauf stirbt, bekommt es ein Grab, an dem die Eltern trauern und beten können. Wo sie ihr Leid dem Gott offenbaren. Das Kind ist tot, seine Seele lebt aber weiter in den gebrochenen Herzen der Eltern. Wird ein ungewolltes Kind abgetrieben oder getötet, bekommt es keine Ruhestätte für die Seele und niemand denkt und betet für sie. Die Seele findet kein Zuhause und sie irrt verwaist umher im Himmel. Das ist es was Gott dir zeigen und klarmachen will.« Richard stockte der Atem. Sein Gesicht erblasste. Jetzt verstand er den Traum. Es war ein Ruf aus der Vergangenheit. Es war die Rechnung für eine Sünde, die er nicht verhindert hatte. Der Pfarrer unterbrach seine Gedanken. »Immer wenn du in der Kirche bist und eine Kerze für deine verstorbenen Familienangehörigen, Freunde oder Bekannte anzündest, tu das auch für die Ungeborenen und bete für ihre Seelenruhe. Bete auch für die Seele der Mutter deiner Freundin und bitte Gott um Vergebung für ihre Todsünde. Und jetzt gehe in Frieden, mein Sohn.« Der Pfarrer machte ein Kreuzzeichen und Richard verließ den Beichtstuhl. Er stand noch direkt davor, als ihm eine Frage einfiel. Woher wusste der Pfarrer von der Mutter seiner Ex-Freundin? Er hatte sie ja gar nicht erwähnt? Er drehte sich um und rief: »Vater! Da wäre noch etwas.« Es kam keine Antwort. »Vater! Ich habe noch eine Frage!« Wieder nichts. Nur die Stille in der Kirche und das Rauschen des Windes draußen konnte man wahrnehmen. Richard riss die Beichtstuhltür auf und blickte hinein. Niemand war da. Über der Armlehne eines leeren Stuhls hing nur eine violette Stola. Richard war verwirrt und dachte nach: Er konnte doch nicht gegangen sein? Ich stand ja davor und hätte ihn sehen müssen. Bei wem habe ich gebeichtet? War es Gott, mit dem ich sprach? Bevor er die Kirche verließ, zündete er eine Kerze vor der Figur der Heiligen Maria an und betete: Heilige Maria, Mutter Gottes, behüte alle deine Kinder im Himmel wie auch auf der Erde. Und gib uns die Kraft, sich der Elternpflicht und der Verantwortung für neues Leben zu stellen, statt der Sünde der Bequemlichkeit und Selbstliebe zu verfallen. Amen. Die folgenden Nächte hatte Richard keine Alpträume mehr gehabt. Immer kurz bevor er einschlief, stellte er sich eine große Wiese mit einem Spielplatz im Himmel vor, auf dem fröhlich und voller Freude Kinder spielten. Eine wunderschöne, junge Frau hielt ein wachsames Auge auf sie. Auf die ungeborenen, wie auch die geborenen und gestorbenen Kinder.
©2021 by Alexander Stepien