Großvaters Uhr
25. März 2022

Aus meiner gesellschaftskritischen Kurzgeschichtensammlung "Tabulos".
Dem Großvater ging es in den letzten Tagen immer schlechter. Seine Lunge war schon vom Krebs befallen und er erstickte wortwörtlich. Der einst so starke, muskulöse Mann war jetzt nur noch Haut und Knochen. Alle wussten, es geht zu Ende mit ihm. Es ist nur die Frage der Zeit, bis sein so guter und kreativer Geist den Körper verlässt. Die Familie war bereit ihn zu verabschieden. Sie trafen aber noch keine Maßnahmen bezüglich seiner Beerdigung. Es gehört sich nicht, solange er noch lebte über sein Begräbnis nachzudenken. Am nächsten Tag starb der Großvater friedlich, weil er mit Morphium vollgepumpt war. Der Großvater Manuel war Jude und hatte viel erlebt und überlebt. Im Zweiten Weltkrieg war er noch ein Kind, konnte sich aber an alles gut erinnern. An den Tag als die Nazis zuerst den Laden seines Vaters, dann die Wohnung geplündert hatten, an die Deportation in das KZ-Lager und die Befreiung durch die russische Armee. Er erzählte, sein Vater war ein Uhrmacher. In seinem Laden, so Großvater, gab es Tausende verschiedene Uhren und er konnte sich noch ganz genau an das Ticken erinnern. Es klang für ihn wie Musik und er verbrachte gerne die freie Zeit nach der Schule in seines Vaters Laden. Er machte sogar seine Hausaufgaben dort, weil ihn das Ticken der Uhren beruhigte. Eines Tages kam ein alter Mann in den Laden und brachte eine Armbanduhr zur Reparatur. Die Uhr war so schön, dass der Großvater sich in sie verliebte. Als sein Vater es merkte, kaufte er die reparierte Uhr dem Besitzer ab und schenkte sie dem Großvater. Der Großvater war überglücklich. Ein Jahr später fingen die Nazis an die Juden zu verfolgen. Sie plünderten und brannten ihre Geschäfte nieder. Die Menschen packten sie auf einen LKW und brachten weg. Keiner wusste wohin aber alle wussten auf nie mehr wiedersehen. Der Großvater sah aber einige von ihnen wieder als man ihn ins Lager brachte. Bevor sie ihn abgeholt hatten, vergrub der Großvater die Uhr im Garten. Tief unter dem Walnussbaum. Sie kamen in der Nacht wie ein Dieb und holten sie aus dem Schlaf direkt auf die Straße. Sie mussten auch auf den LKW steigen. Seinen Vater nahmen sie aber nicht mit. Sie erschossen ihn gleich auf der offenen Straße. Vor seinen Augen. Der Weg war lang. Er wusste nicht wie lang, weil er die Uhr nicht hatte aber es wurde zweimal hell und zweimal dunkel. Kalt und feucht war es auch. Sie kamen, mit seiner Mutter und seiner Schwester in ein Lager im Osten. Der Großvater erinnerte sich noch an das Bellen der Hunde und die Schreie der SS-Leute. Er war damals 12 und musste im Steinbruch arbeiten. Es war hart für ihn. Eines Tages wurde es plötzlich ganz still. Das Hundegebell hörte auf und man konnte nur noch den Wind pfeifen hören. Kurze Zeit später kamen die Soldaten der Russen und sie waren frei. Der Großvater kehrte zurück nach Hause, das es nicht mehr gab. Das Haus wo er wohnte, war nur ein Haufen kaputter Ziegelsteine. Von dem Walnussbaum blieb nur ein kurzer aus dem Boden herausragender Stumpf. Seine Mutter und Schwester waren tot und der Großvater hatte niemanden mehr. Er grub die Uhr wieder raus. Sie war wie neu. Sie funktionierte. Später, sagte Großvater, war es wie im Lager. Es gab kaum was zu essen und sie wohnten in Baracken. Nur Angst vor dem Tod musste keiner mehr haben. Die hatte der Großvater eher nicht mehr gehabt. Dann wollte jemand seine Uhr für ein Stück Brot tauschen. Der Großvater hungerte aber lieber, als die Uhr abzugeben. Der Großvater fand seine Tante Sarah. Lebendig. Sie nahm ihn auf und er ging wieder zur Schule. Nach einigen Jahren wurde er zum Architekten eines großen Bauunternehmens und heiratete die Großmutter. Er lernte sie damals im Lager kennen und von da an waren sie unzertrennlich. Sie bekamen zwei Kinder. Die Großmutter kümmerte sich um das Haus und Kinder und der Großvater und den deutschen Wiederaufbau, der noch nicht überall vollzogen war. Aber egal wie beschäftigt er war, immer wenn er auf seine Uhr schaute und es war 12, wusste er, die Großmutter wartete mit dem Mittagessen. Einmal rettete ihm die Uhr sogar das Leben. Er war auf einer Dienstreise in den USA und vergaß die Uhr auf die amerikanische Zeit umzustellen. So verpasste er den Anschlussflug. Das Flugzeug stürzte ab und alle starben. Der Großvater nicht. Er trug die Uhr immer. Einmal, als er in die Rente ging, bekam er von seinem Chef auch eine Uhr. Der Großvater meinte, sie sei nicht so schön wie seine und steckte sie in die Schreibtischschublade. Sie blieb dort für immer liegen. Eines Tages kam die Dunkelheit über Großvaters Uhr. Es war als die Großmutter verstarb. Der Großvater wurde so traurig, dass die Zeit für ihn keine Rolle mehr spielte. Es war das erste Mal, dass man ihn ohne die Uhr sah. Er trug sie nie wieder. Er meinte: Die Zeit wartet auf niemanden. Als der Großvater starb, legte man ihm die Uhr wieder um. Sie war ein Teil seines Lebens und er sollte sie mitnehmen meinten alle. So lag er jetzt in dem Sarg hinter einer Scheibe der Aufbewahrungskapelle und obwohl er nicht mehr atmete und sein Herz nicht mehr schlug, tickte die Uhr weiter. »Liebe Trauernden. Es ist so weit. Wir müssen den Sarg schließen«, hörte die Familie plötzlich die Stimme des Bestatters. »Ok. Tun Sie es«, antwortete Großvaters Tochter und meine Mutter. Sie zogen die Vorhänge zu und die Familie verließ die Kapelle. »So, jetzt alles raus!«, sagt der Bestatter zu seinem Lehrling. »Die Decke, das Kopfkissen. Schnell!« »Warum nehmen wir es raus?«, fragte der Lehrling. »Es wird wieder verkauft. Und nimm die schöne Armbanduhr mit. Da wo er hingeht, wird er sie nicht mehr brauchen. Dort gibt es keine Zeit.« Dein Enkel Josh.
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