Perspektivenwechsel
13. April 2021
Oft höre ich, es bringe den Leser durcheinander, wenn die Perspektive innerhalb eines Kapitels wechselt. Daher sollte man einem Perspektivenwechsel immer ein neues Kapitel widmen. Aber ist es so? Verwirrt den Leser wirklich ein plötzlicher, unangekündigter Wechsel? Wenn ich schreibe, dann läuft in meinem Kopf ein Film ab. Ich beschreibe was ich sehe und höre. Und wie in einem Film – der üblicherweise keinen Erzähler hat – die Szenen wechseln und aus unterschiedlichen Perspektiven die Geschichte weiter verfolgen, tue ich es auch in meiner Geschichte, nur eben als Text. In meinem aktuellen Projekt „Junges Blut“ habe ich zwei gleichberechtigte Hauptprotagonisten: Joe und Susanna. Und da die unterschiedliche Sichtweise der beiden gleichbedeutend wichtig für die Handlung ist, wechsle ich oft die Perspektive. Mal ist es Joe, der eine Situation betrachtet, mal Susanna. Zum Beispiel in einem Kapitel bereitet Joe das gemeinsame Frühstück vor, während er auf Susanna wartet. Die Erzählung verläuft aus seiner Sicht. Wie er sich stresst und beeilt um alles rechtzeitig vorbereitet zu haben. Und dann kommt auch Susanna. Er verschwindet in der Küche, weil er noch nicht fertig ist. Und hier kommt der Perspektivenwechsel. Susanna schaut sich in Joes Wohnzimmer um. Sie betrachtet die Bilder und Urkunden an der Wand und macht sich entsprechend Gedanken dazu. Warum soll der Wechsel falsch sein? Soll ich bei Joes Perspektive bleiben und beschreiben wie er Brote schmiert? Wen interessiert es? Viel wichtiger ist Susannas Eindruck beim Betreten der Wohnung. Jetzt kommt Joe aus der Küche und die Perspektive wechselt wieder zu ihm. Er bewundert ihr Kleid und ist verzaubert von ihrer Schönheit. Diese ständigen Perspektivenwechsel ziehen sich durch das ganze Buch und weder ich noch meine Testleser empfanden es störend. Im Gegenteil, wie in einem Film, ergänzt eine Szene die andere. Wie ein Tennisball werden sie hin und her zugespielt. Der Perspektivenwechsel belebt die sonst da gewesenen starren Standby-Stellen und liefert zusätzlich wichtige Informationen über eine weitere Figur. Also rate ich nur, man soll es sich trauen. Denn ein Kapitelanfang markiert ein erwartetes Ereignis. Man wird hingewiesen, jetzt kommt etwas Neues. Die Spannung einer Geschichte lebt aber vom Unerwarteten, das plötzlich eintritt, ohne Ankündigung.